The Witcher 3: Wild Hunt (PS4) im Test
Die Wartezeit hat endlich ein Ende: RPG-EnthusiastInnen dürfen seit vergangener Woche endlich ins Regal greifen, um sich ihre Kopie von The Witcher 3: Wild Hunt zu krallen. Warum ich der Überzeugung bin, dass man das nicht nur tun sollte, sondern auf jeden Fall tun MUSS, lest ihr in meinem Review der neuen Rollenspielreferenz.
Apocalypse now?
Wer Geralt von Riva ist, habt ihr bereits in meinem Artikel über den berühmten Hexer erfahren. Auch über die wichtigsten Frauen in seinem Leben wisst ihr dadurch Bescheid. Da ich die spannend inszenierte Geschichte von The Witcher 3: Wild Hunt nicht auch noch spoilern will, hier nur ein paar Zeilen zur Ausgangslage.
Geralt ist gemeinsam mit seinem Lehrmeister Vesemir auf der Suche nach seiner ewigen Flamme, Yennefer von Vengerberg, weil diese ihm in einem Brief schrieb, dass sie ihn sehen müsse. Innerhalb kürzester Zeit wird die Suche aber obsolet, denn die schwarzhaarige Schönheit steht plötzlich in Fleisch und Blut und wie gewohnt nach Flieder und Stachelbeeren duftend vor dem weißen Wolf – begleitet von einer kaiserlichen nilfgaardischen Leibgarde. Unser lieber Geralt staunt nicht schlecht, als sie ihn bittet, einer Einladung Kaiser Emhyr var Emreis zu folgen.
Auf dem Weg nach Wyzima, der ehemaligen Hauptstadt Temeriens, wird der Tross aber von der Wilden Jagd, geisterhaften Vorboten des Kriegs – ähnlich einer elfischen Version der Reiter der Apokalypse –, angegriffen. Geralt und Yennefer schaffen es, die Häscher abzuschütteln. Bei der kaiserlichen Audienz erfährt er, dass die Tochter des Kaisers und Geralts früheres Mündel, Ciri, verschwunden ist und er sie für Emhyr finden soll.
Geralt plagen seit geraumer Zeit Albträume, in denen seine Ziehtochter von der Wilden Jagd verfolgt wird. Da er ebenfalls schon mehrfach das zweifelhafte Vergnügen mit der Geisterkavalkade hatte, schwant ihm Böses, und er begibt sich auf die Suche nach Ciri. Eine epische Reise durch ein kriegsgebeuteltes und von Monstern und grässlichen Sagengestalten heimgesuchtes Land beginnt.
Natürliche Auslese
In der feindseligen Umgebung der nördlichen Königreiche ist es im Fall Geralts natürlich gut, dass er auf Kaer Morhen die Ausbildung zum Hexer genossen hat. Das bedeutet, dass unser Recke mit zwei Schwertern, einem aus Stahl gegen Menschen und Bestien und einem aus Silber gegen übernatürliches Gesocks, in die Schlacht zieht. Zudem beherrscht der Weiße Wolf die Zeichenmagie und hat ein fundamentales alchemistisches Wissen, das es ihm ermöglicht, sich seiner Haut zu erwehren und sich von im Kampf zugezogenen Wunden schneller zu erholen.
Das Kampfsystem ist zwar relativ rudimentär aufgebaut, da es nur eine Taste für leichte sowie eine für schwere Schwertstreiche gibt; dennoch entwickeln die Kämpfe eine ungeheure Dynamik. Das ist vornehmlich dem Ausweichrepertoire Geralts geschuldet, denn er kann sich abrollen, Ausweichschritte machen oder aber parieren und zum Gegenschlag ausholen. Ähnlich wie in Dark Souls heißt es vor allem im Gefecht mit größeren Sagengestalten erst einmal den Unhold zu umtänzeln, seine Bewegungs- und Angriffsmuster zu durchschauen und dann ein, zwei Schläge zu landen, um in Folge gleich wieder auf Distanz zu gehen.
Natürlich ist rollenspieltypisch in allen diesen Fertigkeitsbereichen noch Luft nach oben, und so dürft ihr seine Talente in insgesamt vier Skilltrees steigern. Beispielsweise entwickelt ihr eine höhere Gifttoleranz gegen die nicht ganz gesunden Hexersäfte, teilt stärkere Schwerthiebe aus oder ihr lernt durch Geralts übermenschliche Reflexe Pfeile abzuwehren oder sogar zum/zur AbsenderIn zurückzuschicken. 20 Fertigkeiten in mehreren Ausbaustufen gibt es in Summe, jedoch heißt das nicht, dass Geralt irgendwann zum unbezwingbaren Hexenmeister wird, denn das Charaktersystem von The Witcher 3: Wild Hunt zwingt wegen seiner Komplexität zur Selektion und Abstimmung auf die jeweilige Kampfsituation. Maximal zwölf Talente dürft ihr ab einer höheren Charakterstufe aktivieren und durch von Monstern ergatterte Mutagene noch verstärken. Gerade dieses ständige Umskillen und Anpassen sorgt dafür, dass The Witcher 3: Wild Hunt euch dauernd auf Trab hält und euch so nicht langweilig wird.
Geografische Megalomanie
In The Witcher 3: Wild Hunt könnt ihr euch in einer riesigen mittelalterlichen Fantasywelt eurem feuchten Open-World-Rollenspieltraum hingeben. Ein derart lebendiges Universum konnte bisher maximal The Elder Scrolls V: Skyrim bieten, doch das neueste Abenteuer des Hexers übertrumpft Bethesdas Mammutrollenspiel in Sachen Größe und Authentizität noch einmal.
Insgesamt vier große Bereiche, die in sich ohne Ladezeiten zum freien Erkunden einladen, bietet euch das Spiel. Als Prolog-Gebiet hält die malerische Landschaft um Weißgarten her. Im späteren Spielverlauf dürft ihr noch das vom Krieg gegen Nilfgaard zerfurchte und gezeichnete Velener Niemandsland, die freie Handelsstadt Novigrad samt Umland und die winterlich-raue Inselgruppe von Skellige bereisen. Insgesamt gilt es, mit eurem treuen Pferd Plötze und der einen oder anderen Nussschale zu Land und zu Wasser 136 Quadratkilometer zu erkunden. Das ist mehr als die Spielwelten von GTA V (81 Quadratkilometer) und The Elder Scrolls V: Skyrim (39 Quadratkilometer) zusammen.
CD Projekt REDs Megalomanie schön und gut, aber werden die nördlichen Königreiche in The Witcher 3: Wild Hunt auch mit Leben gefüllt? Und ob! An keinem Ort auf der Karte habt ihr das Gefühl, dass ihr diesen gleichen Landstrich schon einmal gesehen habt. Alles wirkt extrem organisch, immer aufs Neue wiederverwertete Versatzstücke sucht ihr vergebens. Überall gehen Leute ihrem Tagwerk nach, blühen selbst kleinere Siedlungen mit Leben oder wird die Welt von patrouillierenden Soldaten, Wanderpredigern oder auch Wildtieren belebt. Gräser und Büsche werden vom Wind des dynamischen Wetters bei Sturm umhergepeitscht, und in Waldgebieten brechen Sonnenstrahlen sanft durch das Dickicht der Baumkronen.
Im Vorbeigehen schnappt ihr gelegentlich Anspielungen an Filme und Serien auf. Die Wachen des roten Barons beratschlagen beispielsweise, ob sie den Gimp aufwecken sollen. Die temerischen Truppen munkeln von einer kürzlich stattgefundenen „Rote Hochzeit“, und ein meisterlicher Schwertschmied, der sich zur Ruhe gesetzt hat, trägt den Namen Hattori. Emotionale Glaubwürdigkeit ist aber auch ein Punkt, den die polnischen EntwicklerInnen hochheben. So sieht man in gebrandschatzten Dörfern gelegentlich auch die einfache Bevölkerung vor ihrer ruinierten Existenz trauernd auf Knien rutschen oder bettelnd am Wegesrand herumlungern. Die Welt von The Witcher 3: Wild Hunt versteht es einfach, Lebendigkeit zu vermitteln und die Kriegsrealität nicht zu verharmlosen, sondern so unerbittlich und umgeschönt zu präsentieren wie möglich.
Fifty Shades of Grey
Allein durch diese fabelhaft gestaltete Welt zu reiten und jeden virtuellen Quadratmeter in sich aufzusaugen macht schon sehr viel Spaß, aber natürlich gibt es für einen Hexer auch genügend zu tun. Und damit meine ich natürlich nicht nur den Hauptstrang der Geschichte. Dass CD Projekt RED mit ihren bisherigen Spielen bewiesen haben, dass sie großartige Rahmenhandlungen erzählen können, ist nichts Neues. Auch in The Witcher 3: Wild Hunt geben sich die PolInnen da keine Blöße. Aber was die Nebenquests angeht, ist Geralts neuestes Abenteuer ein Referenzspiel. Man nehme als Beispiel nur die in die Hauptstory eingewobene Nebenquest-Reihe rund um den Blutigen Baron und seine Familienangelegenheiten. Ich möchte auch diese grandiose Erzählung nicht spoilern, aber was hier in The Witcher 3: Wild Hunt als Nebenhandlung abläuft, blähen andere Publisher und Studios zu einem ganzen Spiel auf. Einfach grandios.
Was in Sachen Storytelling ebenfalls seit jeher eine Stärke der Witcher-Reihe ist, sind die Entscheidungen. Klar: Entscheidungen treffen die SpielerInnen auch in anderen Spielen, und damit verbundene Konsequenzen beziehungsweise alternative Enden gibt es hier wie dort. Aber wo die Mass Effect-Serie beispielsweise mit entsprechender Farbgebung der Dialoge zeigt, was die böse und was die gute Antwort oder Entscheidung ist, lässt The Witcher 3: Wild Hunt uns eiskalt ins offene Messer laufen, denn eines – so viel sei verraten – gibt es in den nördlichen Königreichen nicht: ein Happy End. Reine Schwarz-Weiß-Malerei sucht ihr in Sapkowskis Universum vergebens. Es existieren nur Graustufen, und das lässt uns SpielerInnen oftmals mit einem unnachahmlich melancholischem „Was wäre wenn?“-Wehmutsgefühl zurück, das einen noch tiefer in die Geschichten um den Hexer eintauchen lässt.
„GWINT“ g’winnt
Um solche teilweise harten Konsequenzen verdauen zu können, muss man sich natürlich ablenken, doch auch dazu bietet The Witcher 3: Wild Hunt genügend Optionen. Erkundet die Welt nach Schätzen, befreit die Gegend hexertypisch von allen möglichen Mythen- und Sagengestalten, erteilt Banditen, Deserteuren und Plünderern eine Abfuhr und setzt ihrem Treiben ein Ende, sucht nach Schätzen und Handwerksdiagrammen für bessere Ausrüstung, bestreitet Pferderennen, räuchert Monsternester aus oder versucht beim eigens für The Witcher 3: Wild Hunt kreierten Sammelkartenspiel „Gwint“, euer Deck zu vervollständigen und damit die härtesten KontrahentInnen in die Knie zu zwingen. Egal, was ihr tut, es wirkt einfach rund und macht eine Menge Spaß.
Die Suche nach dem Haken
Bisher komme ich ja aus dem Schwärmen über The Witcher 3: Wild Hunt nicht heraus. Wenn man möchte, könnte man mir nun Befangenheit oder Bestechlichkeit unterstellen und behaupten, CD Projekt RED hätte mich für meine Lobeshymne bezahlt. Absoluter Humbug, sage ich dann, denn das Spiel ist wirklich so großartig, und Fehler hat es kaum. Außer man sucht danach und versteift sich darauf. Ähnlich wie die Community, die sich seit Tagen über einen Grafik-Downgrade mokiert. CD Projekt RED haben das auch indirekt zugegeben, aber ich muss auch hier für die PolInnen in die Bresche springen, denn trotz allen Gejammers, dass es noch besser aussehen könnte, sieht das Spiel einfach nur fantastisch aus.
The Witcher 3: Wild Hunt ist für mich ein Augenschmaus, erst recht, wenn man bedenkt, wie riesig die Welt ist. Die Charaktere sind sehr gut gezeichnet und mit einer außerordentlichen Liebe zum Detail entworfen. Man sieht fast jede Pore, und kein NPC gleicht dem anderen, so wie es in den Vorgängern oftmals passierte. Die Kleidungen und Rüstungen wirken sehr stofflich und realistisch in Sachen Faltenwurf und Authentizität, da sich der Fantasyfaktor in Grenzen hält und die Orientierung an mittelalterlichen Gewandungen im Vordergrund steht.
Ganz selten habe ich bisher Texturen gesehen, die nicht sofort laden. Noch viel seltener gibt es Clipping-Fehler. Wenn man wirklich gern meckert, gibt es für mich vor allem einen Kritikpunkt: das Inventar. Aufgrund des ausladenden Crafting- und Alchemiesystems sowie der vielen Waffen und Rüstungen, die das Spiel bietet, tummeln sich im Beutel des Monsterschlächters bald gefühlt hunderte Sachen, bei denen man leicht den Überblick verlieren kann. Doch das ist nach einer gewissen Eingewöhnung auch kein Problem, und man weiß, wo man Öle oder spezielle Zutaten findet. Gelegentlich passiert der KI in Kämpfen oder auch bei „Gwint“ das eine oder andere Hoppala, aber da The Witcher 3: Wild Hunt bereits auf dem normalen Schwierigkeitsgrad relativ schwer ist, freut sich wahrscheinlich jede/r außer den Dark Souls-MasochistInnen über den einen oder anderen Hänger.
Fazit
Ich könnte noch viel länger und ausführlicher über The Witcher 3: Wild Hunt schreiben, aber warum sollte ich das tun und ihr das lesen, wenn wir alle diese Zeit viel besser in den nördlichen Königreichen verbringen können? Eben! Darum nur noch ein paar kurze Zeilen zum Abschluss.
The Witcher 3: Wild Hunt ist das Meisterwerk geworden, auf das wir gehofft haben. Gewaltiger Umfang, geniales Storytelling und – auch wenn das Internet, wie gewohnt, einen Shitstorm feiert – eine Grafik zum Niederknien. Rollenspielerherz, was willst du mehr?
Liebe EntwicklerInnen anderer Studios: Ab sofort hängt die Messlatte für euch extrem hoch, denn für mich ist The Witcher 3: Wild Hunt die neue Rollenspielreferenz, an der sich zukünftige Games in Sachen Präsentation, Inhalt, Atmosphäre und Authentizität messen müssen. Wer auch nur im geringsten Maß etwas mit dunkler Fantasy, Game of Thrones-artiger Atmosphäre, Rollenspielen, Open-World oder – ach, was sag ich – Videospielen generell anfangen kann, MUSS The Witcher 3: Wild Hunt gespielt haben. So gehet hin und kaufet es blind!