Divinity: Original Sin (PC) im Test
Die Larian Studios führen mit Divinity: Original Sin die beliebte Rollenspielmarke Divinity fort. Die Finanzierung erfolgte dieses Mal aber mithilfe der Crowdfunding-Plattform Kickstarter. Nur durch die tolle Unterstützung der Community wurde das Projekt erst ermöglicht. Es ist ein Titel, der auch mir sehr am Herzen liegt: ein klassisches Oldschool-Rollenspiel in der Manier von Baldur’s Gate, Fallout oder der Ultima-Serie. Ob die altbekannten Mechaniken auch 2014 noch funktionieren, verrate ich euch in meinem Test.
Die Quelle der Magie
Wer die Geschichte der Divinity-Vorgänger (Divine Divinity, Beyond Divinity, Divinity II) kennt, wird einige Wesen und Kulturen sofort wiedererkennen. Aber keine Sorge, Vorwissen wird nicht benötigt, um Divinity: Original Sin genießen zu können, denn die Geschichte spielt ungefähr 1000 Jahre vor den Geschehnissen der ersten Divinity-Spiele.
Schon fast Fantasy-Standard ist das erste Problem, mit dem ihr in Rivellon konfrontiert werdet: Orks ziehen mordend, brandschatzend und marodierend durch die Städte und Lande. Doch die Geschichte von Divinity: Original Sin ist um einiges komplexer als die auf den ersten Blick billige Orkinvasion. Auch abtrünnige Menschen kämpfen auf der Seite der Grünhäute, und niemand kennt ihren Anführer bzw. ihr Motiv. Warum wollen sie die Städte von Rivellon überhaupt einnehmen?
Ein noch größeres Problem als die Orks birgt die Quellenmagie („Source Magic“), mit der der Zirkel der Magier gestürzt wurde. Diese Zauberkraft gilt als Ursprung jeglicher Magie, soll aber laut einer Prophezeiung das Ende der Welt herbeiführen. Deshalb wird jeder Verstoß dagegen von sogenannten QuellenjägerInnen geahndet. Und wie ihr euch sicher denken könnt, sind auch die beiden spielbaren Charaktere solche QuellenjägerInnen.
Die Questvielfalt in Divinity: Original Sin ist gigantisch, und die einzelnen Geschichten sind gut geschrieben. Die Aufgaben sind meiner Meinung nach vielschichtig, sie bieten Tiefgang und halten mich definitiv bei Laune. Kleiner Teaser: Schon zu Beginn meines Abenteuers in Rivellon reiste ich mit den beiden von mir erstellten Charakteren ans Ende der Zeit. Ohne zu viel zu verraten, kann ich sagen, das euch Divinity: Original Sin einige Überraschungen und Plot-Twists serviert, die erzählerisch spannend und ausgeklügelt sind. Einziges Manko daran ist, dass die meisten Dialoge durch unvertonte Textfenster erzählt werden. Das hat einen gewissen Retrocharme und passt deshalb sehr gut in das Oldschool-Rollenspiel-Bild von Divinity: Original Sin.
Zu zweit durch Rivellon
Außerdem sind die Storystränge nicht linear. Durch die unzähligen Dialoge könnt ihr die Geschichte nämlich stark beeinflussen. Dabei gibt es aber nicht nur klassische Schwarz-Weiß- oder Gut-Böse-Entscheidungen, sondern auch richtig knifflige zu treffen. Wobei ich an dieser Stelle erwähnen muss, dass es keine wirklich guten oder bösen Antwort gibt. Dieser Handlungsspielraum ist fesselnd und lässt mich meist mehrere Minuten regungslos vor dem Bildschirm verharren, um darüber nachzudenken, was für mich die beste Antwort ist.
Spielt man den Singleplayer-Modus, kann man für beide Charaktere entscheiden, was diese antworten sollen. Sind die beiden Antworten gegensätzlich, wird argumentiert und dann nach Charaktersystem ausgewürfelt, wer von den beiden sich durchsetzt. Natürlich können meine beiden Charaktere Davevader, der weißhaarige Krieger mit der Afrofrisur und dem Schnauzer, und Scarlett, die etwas mürrische, aber loyale Zauberin, verschiedener Meinung sein. Zugegeben, wenn man seine Charaktere nicht vollkommen rollenspielmäßig handeln lässt, hat das allein noch wenig Sinn, da ich selbst beide steuern und antworten lassen kann und sie bei sehr wichtigen Entscheidungen dann notgedrungen einer Meinung, nämlich meiner, sind. Spannender wird es, wenn man zu weit im Koop-Modus spielt. Dann steuert man jeweils eine Figur, wodurch die Verhandlungen zwischen den beiden SpielerInnen bzw. zwischen den beiden HeldInnen sehr wichtig werden. Ein einfaches, aber gutes Beispiel: Will man die Stadtwachen nun bezahlen oder umbringen, damit man in die Stadt gelangt? Das muss erst einmal ausdiskutiert werden, und falls es zwei unterschiedliche Meinungen gibt, kann man seinen Charme spielen lassen und den/die MitspielerIn einschüchtern oder überzeugen. Je nach Situation und Punkteverteilung bei den Charakteren setzt sich einer durch, und danach wird dann gehandelt.
Charaktererstellung
Das bringt uns zur Charaktererstellung, und dabei geht es weniger um das Aussehen als vielmehr um die inneren Werte (ja, wirklich!). Das Erstellen eines Charakters ist in vielen Spielen nur Beiwerk. Nicht so bei Divinity: Original Sin, weshalb ich bei diesem Aspekt ein wenig ins Detail gehe.
SpielerInnen, die schon einmal Pen-and-Paper-Spiele wie z. B. Dungeons and Dragons oder Das schwarze Auge gespielt haben, werden große Freude mit der Charaktererstellung haben und sich gleich wie zu Hause fühlen. Zuerst wählt ihr eine der elf Klassen aus, wobei das Sortiment vom klassischen Tank (Kämpfer, Ritter) über Damage Dealer (Hexe, Kampfmagier) bis hin zu außergewöhnlichen Charakteren, wie der stealthigen Schattenklinge oder dem tierliebenden Reisenden, reicht. Ihr könnt schon zu Beginn aus mehreren Fähigkeiten wählen und die Punktzahl der Attribute (Stärke, Intelligenz, Konstitution etc.) ändern.
Für EinsteigerInnen sind die Klassen zwar vorgegeben, für RollenspielveteranInnen ist aber alles separat um- und einstellbar. So könnt ihr z. B. auch die Persönlichkeit des Charakters ändern und diesem mehr Charme oder Glück verleihen oder auch die Eigenschaft Führungskraft verbessern. Als letzten Punkt gibt es dann noch eine enorm lange Liste an Talenten, die wie die Perks aus Fallout 3 funktionieren – auch hier gibt es ein paar sehr außergewöhnliche. So könnt ihr beispielsweise mit dem Talent Tierfreund mit Tieren sprechen, was unfassbar nützlich ist. Sie verraten euch nämlich das eine oder andere sehr wichtige Geheimnis.
Es ist sehr viel möglich, und die unzähligen Eigenschaften beeinflussen den Charakter merklich und logisch. Deshalb macht das Erstellen eines Charakters sehr viel Spaß, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihr so zwei sich ergänzende HeldInnen erschaffen könnt.
Rundenkampf mit Elementen
Hat man es dann endlich geschafft, die Charaktererstellung hinter sich zu lassen – ich habe mehr als 45 Minuten dafür gebraucht –, beginnt endlich das Spiel. Schnell werdet ihr merken, dass die gerade ausgewählten Werte sehr wichtig sind, denn der erste Kampf lässt nicht lange auf sich warten. Dann wechselt Divinity: Original Sin von Echtzeit in einen rundenbasierten Kampfmodus. Alle im Kampf befindlichen Charaktere kommen abwechselnd an die Reihe und führen so lange Aktionen bzw. Zauber und Fähigkeiten aus, bis die Aktionspunkte aufgebraucht sind. Im Kampf ist Köpfchen gefragt, denn die mächtigeren Attacken kosten auch mehr Aktionspunkte. Außerdem muss man auf den Untergrund und die Elemente achtgeben. Wenn ein/e GegnerIn in einer Wasserpfütze steht, könnt ihr diese/n mit einem Blitzzauber unter Strom setzen. Hat ein/e FeindIn eine Eismauer vor sich aufgebaut, könnt ihr diese mit einem Feuerball zum Schmelzen bringen. Das Kombinieren von Zaubern erweitert die rundenbasierten Kämpfe angenehm und erweitert zusätzlich die strategischen Möglichkeiten. Außerdem lernt ihr immer wieder Leute kennen, die sich der Party anschließen und mitkämpfen. Divinity: Original Sin bietet ein ausgeklügeltes Kampfsystem mit sehr vielen Variablen, weshalb die Kämpfe knackig und fordernd zugleich sind.
Gehirn reaktivieren
Zu jedem Zeitpunkt ist es möglich, euch online einer/einem SpielerIn anzuschließen. Mit FreundInnen entstehen dadurch spannende Entscheidungskonflikte, die ich bereits zuvor angekündigt habe. Außerdem macht die Monsterhatz und das Erforschen der Welt zu zweit besonders viel Spaß. Überhaupt ist das Erkunden in Divinity: Original Sin wichtig, denn wie sich das für ein Rollenspiel der alten Schule gehört, wird nicht angezeigt, wo der nächste Questgegenstand oder der/die nächste GesprächspartnerIn zu finden ist. Ihr müsst also genau lesen und euch an Ortsangaben orientieren. Beim Spielen habe ich mich selbst dabei ertappt, wie sehr ich mich an die heutigen Gameplay-Standards gewöhnt habe. Dass mir auf der Karte nicht eingezeichnet wird, wo ich hin muss, bzw. ich keiner vorgegebenen Linie folgen kann, wirkt anfangs ziemlich unkomfortabel, entwickelt dann aber einen angenehmen Retrocharm. Es wird in Divinity: Original Sin wenig vorgekaut, weshalb das Spiel definitiv nichts für AnfängerInnen oder GelegenheitsspielerInnen ist.
Egoismus zahlt sich aus?
Die Suche nach den Questgegenständen hat auch einen praktischen Nebeneffekt: So erkundet ihr die Welt ohne viel Mehraufwand, und ihr werdet immer wieder über sehr interessante Dinge stolpern. In nahezu jedem Dungeon gibt es ein Rätsel, zudem solltet ihr das eine odere andere Buch in der Spielwelt genauer durchlesen, da darin oft Hinweise und Tipps versteckt sind. Allerdings könnt ihr in Divinity: Original Sin nicht nur Gegenstände finden, ihr könnt sie auch „ausborgen“. Indem ihr das Objekt der Begierde einfach mitgehen lasst, statt drei zeitraubende Aufgaben zu erfüllen, könnt ihr manche Quests wesentlich schneller erledigen. Aber Achtung! Das zieht mehrere Konsequenzen mit sich: Wer öfter beim Diebstahl erwischt wird, wandert ins Gefängnis und muss sich dann vom anderen Charakter freikaufen lassen.
Selbst wenn ihr nicht direkt beim Diebstahl erwischt werdet, wird das Moralsystem von Divinity: Original Sin aktiv. Dabei gibt es Werte wie „Egoistisch – Selbstlos“ oder „Nachsichtig – Rachsüchtig“. Je nachdem, wie hoch die verschiedenen Werte sind, reagieren auch die NPCs anders auf die beiden HeldInnen. Die Konsequenzen beziehen sich aber nicht nur auf das Stehlen, sondern auch auf nahezu alle Aktionen im Spiel. Dadurch, dass jede Handlung ihre eigenen Konsequenzen nach sich zieht, seid ihr gezwungen, über eure Taten nachzudenken, wodurch das Spiel nochmals enorm an Tiefe gewinnt.
Von Wellen, Schreihälsen und Kühen
Die Grafik von Divinity: Original Sin ist stimmungsvoll und atmosphärisch: Sogar kleine Wellen branden ans Ufer. Die Dungeons und Innenräume punkten meist mit viel Liebe zum Detail, wodurch die Welt sehr lebendig wirkt. Die Menschen sehen auch nach dem Ranzoomen noch gestochen scharf aus – einzig die Haare wirken etwas comichaft. Ein paar Objekte wie zum Beispiel Bäume sind zwar etwas grob texturiert, passen aber zum Gesamtbild des Spiels und fallen daher nicht negativ ins Gewicht. Die Grafik ist alles in allem gelungen und schön anzuschauen.
Besonders unter die Haut geht der Soundtrack des Spiels. Orchestrale Melodien begleiten eure HeldInnen auf Schritt und Tritt, während Vogelgezwitscher oder die Brandung des Meeres meist im Hintergrund zu hören sind. Auch wenn ihr eine Stadt betretet, hört ihr sofort einige Menschen miteinander reden (allerdings nur auf Englisch). Divinity: Original Sin verfügt zwar über deutsche Texte, der Ton ist aber immer englisch – deutsche Untertitel sind allerdings möglich. Dafür machten die SynchronsprecherInnen einen ordentlichen Job und hauchen so der ein oder anderen Zwischensequenz mehr Leben ein. Viele gibt es davon jedoch nicht: Die meiste Zeit werdet ihr mit Textboxen verbringen. Auch sonst ist nicht alles optimal: So nervte es mich schon nach kurzer Zeit, dass einige BewohnerInnen unaufgefordert (d. h. auch ohne Interaktion) immer den gleichen Satz von sich geben oder das gleiche Geräusch in einer Endlosschleife machen. Extrem wird dieses Manko, wenn ihr gerade ein Gespräch mit einem/einer BewohnerIn führt und daher nicht weg könnt.
Die Kühe kommen!
Ein besonderes Feature möchte ich noch vor meinem Fazit erwähnen: den kostenlosen Spieleditor. Mit diesem könnt ihr eigene Levels und Spielinhalte erstellen! Ein Beispiel dafür ist Larians Mod Cowsimulator 2014.
Zusammenfassung
Divinity: Original Sin bietet alles, was ein Rollenspiel braucht. Zwar werden die langen Laufwege und die Suche nach bestimmten Gegenständen oder Personen manchmal nervig. Das Gefühl nach einer erfolgreich abgeschlossenen Aufgabe ist dafür aber umso schöner. Divinity: Original Sin ist ein Spiel, das SpielerInnen nicht bei der Hand nimmt, ihnen knifflige Rätsel vorgibt und ihnen ein tiefgründiges Charaktersystem mit schier unglaublicher Vielfalt serviert. Es ist eine Reinkarnation bereits in Vergessenheit geratener Oldschool-Rollenspiele, wie sie es heute fast gar nicht mehr gibt. Danke für das gelungene Comeback dieses Genres!