Entfessle den Bösewicht in dir: Tyranny im Test

von Marianne Kräuter 28.02.2017

Von Kindesbeinen an wurde es uns von Eltern und Großeltern in unzähligen Märchenstunden eingebläut: Böse zu sein, zahlt sich nicht aus, das Gute siegt am Ende immer. Verzeiht, dass ich euch an dieser Stelle desillusionieren muss, doch dem ist nicht so! Das Böse siegt doch und macht außerdem herrlich viel Spaß, wie Tyranny, Obsidian Entertainments neues Oldschool-Rollenspiel, beweist.

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Des Teufels Advokat

Zu Beginn des Spiels scheint die große Geschichte schon vorüber zu sein.

Zu Beginn des Spiels scheint die große Geschichte schon vorüber zu sein: Die Schlachten sind geschlagen, Widerstände gescheitert und der finstere Überlord Kyros hat nach seinem 400-jährigen Eroberungszug die Welt unter seine (oder ihre?) Herrschaft gebracht. Wer hinter dem Namen „Kyros“ steckt, weiß niemand. Wie ein Puppenspieler zieht der Herrscher im Hintergrund die Fäden und bleibt selbst verborgen.

Als Schicksalsbinder übernehmen wir eine der höchstrangigen Rollen in Kyros’ Machtstruktur und reisen durch die Welt, um seinen Willen zu erfüllen. Auf einer großen Landkarte, die mit kleinen metallenen Figuren und Modellen zur kriegsstrategischen Planung verwendet wird, wählen wir im Choose-Your-Own-Adventure-Stil unsere bisherigen gewichtigen Handlungen im Eroberungszug. Je nachdem mit welcher von Kyros’ Armeen wir sympathisieren – den disziplinierten und gedrillten Geschmähten oder dem chaotischen und Gewalt verehrenden scharlachroten Orden -, wie wir Städte erobern, aufkeimende Rebellionen zum Schweigen bringen und andere Entscheidungen treffen, legt fest, wie uns unterschiedliche Fraktionen und Leute während des Spiels begegnen.

Immer wieder müssen wir Partei ergreifen: für die Geschmähten oder den Scharlachroten Orden

Das Böse kennt keinen Ruhestand

In diesen Prolog eingebettet findet sich auch die Charaktererstellung. Diese ist gewohnt detailreich, jedoch flexibler als üblich. Anstatt fester Klassen wie „Barbar“ oder „Magier“ lasst sich das Fähigkeitenset unseres Protagonisten baukastenartig zusammenstückeln, wodurch auch ungewöhnlichere Kombinationen möglich sind. So können wir zum Beispiel einen ehemaligen Soldaten spielen, der es vorzieht mit dem Speer zu kämpfen aber auch Frostzauber beherrscht.

Wie wir uns in jeweiligen Quests entscheiden kann ungeahnte Spätfolgen haben.

Anstatt uns nach dem langen Krieg in einen langen und friedlichen Ruhestand begeben zu können, müssen wir auf Kyros Geheiß nach Vendriens Brunnen reisen, wo wir eine Rebellion aufhalten sollen. Um uns gebührend zu motivieren, hat uns Kyros ein magisches Geheiß mitgegeben, dass dafür sorgt, dass alle – wir eingeschlossen – in dem Tal sterben werden, sollte das Problem nicht innerhalb von acht Tagen gelöst sein. Es ist also unsere Aufgabe mit den ständig zankenden Geschmähten und dem scharlachroten Orden zusammenzuarbeiten, Streitigkeiten zu schlichten, und möglichst schnell zu versuchen, die Bewohner des Tals von ihrer Rebellion abzuhalten. Wie wir uns in jeweiligen Quests entscheiden kann ungeahnte Spätfolgen haben und zum Beispiel beeinflussen, welche Gefährten, Zaubersprüche oder Fähigkeiten uns im Spiel zur Verfügung stehen.

Lesefreudig muss man sein

Dungeons&Dragons-KennerInnen sowie SpielerInnen von Pillars of Eternity werden sich in Tyranny trotz einiger kleiner Änderungen gleich zuhause fühlen. In einer isometrischen Ansicht steuert man sich und bis zu drei weitere Gruppenmitglieder mit Mausbefehlen durch die Abschnitte der Welt, plaudert ausgiebig mit NPCs, läuft von Quest zu Quest und kämpft gegen Feinde. Während die Präsentation von Tyranny nach heutigen Maßstäben bieder ausfällt, wird man die isometrische Ansicht bei den Kämpfen noch zu schätzen lernen. Dass man sich in die Welt einlebt, hängt hier nicht an guter Grafik oder tollen Animationen sondern an den stimmungsvollen Texten. Linguaphile werden anhand unzähliger, detaillierter Textboxen die mit herrlich altertümlichen englischen Begriffen gefüllt sind, in Verzückung ausbrechen. Auch die deutsche Übersetzung kann sich sehen lassen; wenn auch die Sprachausgabe nur in Englisch vorliegt.

Im siebten Statistik-Himmel

Neben der detailliert gezeichneten Welt und der Geschichte von Tyranny spielen auch die Kämpfe eine große Rolle, die wie für Rollenspiele dieser Art üblich in Echtzeit stattfinden, jedoch jederzeit mithilfe der Leertaste pausierbar sind. Die Pausenfunktion ist auch dringend nötig, um die Gruppenmitglieder immer wieder anzuweisen und die nächsten Aktionen zu planen.

Der Battlelog, der die Aktionen und Werte des Kampfes auflistet, quillt nur so über vor Zahlen und Wahrscheinlichkeiten.

Hier wird auch klar, wie sehr sich Tyranny an den Wurzeln des Rollenspiels, dem Pen&Paper, orientiert: Zahlreiche Statuswerte, Charakterattribute und Aktionen wollen bedacht werden. Unterschiedliche Waffen richten unterschiedliche Schadenstypen an, gegen die die Gegner mehr oder weniger empfindlich sind. Manche sind auch gegen bestimmte Zauber immun. Man kann gegnerische Angriffe durch eigene unterbrechen, kritische Treffer landen und gegnerischen Schlägen ausweichen. Daneben gibt es die Schnelligkeit der gewählten Waffen zu beachten, wann man welche Spezialfähigkeit einsetzen möchte, und und und. Der Battlelog, der die Aktionen und Werte des Kampfes auflistet, quillt nur so über vor Zahlen und Wahrscheinlichkeiten.

Kämpfe in Tyranny sind feuchte Träume für Statistik-Fans.

Während dem Spielen habe ich mir öfters gedacht, dass sich das Kampfsystem sicher etwas vereinfachen ließe. Viele Feinheiten, wie z.B. unterschiedliche Schadensarten, werden einem vom Spiel nicht näher gebracht und müssen zum Bestehen der Kämpfe (zumindest auf der Schwierigkeitsstufe “normal”) nicht weiter beachtet werden.

Behutsame Neuerungen

Wer bereits Erfahrungen mit Baldur’s Gate oder Pillars of Eternity gesammelt hat, den wird das bisher über Tyranny Erzählte ziemlich an diese früheren Rollenspiele erinnern. Doch auch wenn sich Tyranny den Begriff „Oldschool-RPG“ groß auf die Fahne schreibt, hat es ein paar Neuerungen vorzuweisen.

Eine sehr willkommene Neuerung ist das direkt im Text eingebundene Glossar: Schwebt man mit dem Mauszeiger über hervorgehobenen Begriffen in Dialog- oder Beschreibungstexten erscheinen die Glossarerklärungen zu diesen, ohne extra im Spielejournal diese nachschlagen zu müssen. Wie konnte nur zuvor noch niemals jemand dieses einfache Feature verwenden?! Allerdings kommt mir vor, dass dieses Feature gewissermaßen als Rechtfertigung dafür verwendet wird, den ahnungslosen Spieler in diese Welt zu werfen und mit unzählichen Lore-Begriffen zu erschlagen. Während des Prologs und in den ersten Spielstunden hatte ich oft keine Ahnung von wem jetzt die Rede ist oder verwechselte Leute und Fraktionen. Trotz der Begriffserklärungen, wäre ein etwas gemächlichererer Einstieg hier schön gewesen.

Ebenfalls noch nie in dieser Form gesehen habe ich das Reputationssystem von Tyranny. Je nach unseren Taten und Antworten in Dialogen ziehen wir uns die Sympathie oder den Zorn unterschiedlicher Fraktionen zu. Haben diese beiden Leisten gewisse Werte überschritten werden besondere Boni aktiv. Es kann sich also auch lohnen, gewisse Parteien gehörig zu verärgern. Während ich dieses System in der Theorie super finde, hat es in der Praxis dazu geführt, dass mein Schicksalsbinder keine wirkliche Persönlichkeit entwickelte sondern sich wie ein Fähnchen im Wind drehte. Mal sagte sie dieses, mal tat sie jenes, nur mit dem Ziel im Hinterkopf einen gewissen Bonus freizuschalten, was sich natürlich negativ auf die Immersionsfähigkeit auswirkte. Andere mögen da standhafter sein, ich war es nicht.

tyranny reputation

Je nach Ruf erhalten wir Boni bei unterschiedlichen Fraktionen

Retro oder angestaubt?

Wie ihr an meinen oberen Ausführungen sehen könnt, ist Tyranny ein typisches westliches Old-School-Rollenspiel mit all seinen Stärken und Schwächen. Während es mit interessanten Neuerungen, wie der flexiblen Charaktererstellung, dem Reputationssystem und dem automatisch aufgerufenen Glossar punkten kann, wird es von seinem Vorgänger, Pillars of Eternity, in einigen Belangen in den Schatten gestellt: Rätsel in der Spielwelt sind um einiges simpler, die besuchten Schauplätze kleiner und die Gegner nicht besonders variantenreich. Das Kampfsystem könnte man meiner Meinung nach ruhig mal entschlacken und SpielerInnen etwas gemächlicher in die Welt einführen. Auch die Geschichte enttäuscht am Ende: Während die Prämisse der Handlung fesselt, wird man nach etwa 30 Stunden Spielzeit mit einem offenen Ende stehen gelassen, das zentrale Konflikte der Geschichte ungeklärt lässt.

So bleibt zum Schluss, trotz des Spaßes den Tyranny bietet, ein etwas unbefriedigtes Gefühl zurück.

Wertung: 7.9 Pixel

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