Reden wir über das Videospieljahr 2016: Die Kleinen trauen sich, die Großen bleiben feige
Jedes Jahr wird uns von Producern und Publishern der Himmel auf Erden versprochen.
Jedes Jahr auf der E3, der gamescom und anderen großen Messen wird uns von Producern und Publishern der Himmel auf Erden versprochen: Es soll mehr für Diversität getan werden. Wir werden mehr starke, nicht-übersexualisierte Frauen als virtuelle Heldinnen steuern, mehr LGBTQ-Charaktere und People of Color erleben. Shooter werden selbstkritisch mit ihrer Materie umgehen, die Open-Worlds von Ubisoft nicht mehr generisch sein, jede Side-Quest spannend, neu und einzigartig. Unsere grafischen Gelüste werden vollends befriedigt, ohne dass zu wenig Entwicklungsgeld für eine durchdachte Story, vielschichtige Charaktere und bahnbrechend neue, überragende Spielmechaniken übrig bleibt. Und jedes mal sind wir aufs neue enttäuscht, wenn sich die Spiele, die uns als die holden Engel der Spieleindustrie verkauft worden sind, hinter der blendenden Glorie des Marketings als Schwein mit blonder Perücke entpuppen.
Doch daneben gibt es noch die Kleinen, Leisen, die ohne schallende Fanfaren ihr Spiel auf den Markt bringen. Sie bieten keine hundert Stunden gestrecktes Gameplay. Sie bieten keine zeitgemäße, fast schon im Uncanny-Valley beheimatete Grafik. Sie bieten keine cineastisch inszenierten Cut-Scenes mit Schauspielern, die Millionengehälter verschlingen. Stattdessen bieten sie kleine persönliche Geschichten und Erfahrungen, die einen tausendmal mehr berühren, als der zehnte AAA-Shooter.
Begebt euch mit mir auf eine kleine Vergangenheitsreise durch das Videospieljahr 2016, in dem die großen Videospielhersteller wieder nicht mutig genug waren, Ecken und Kanten zu zeigen, und die Indie-Entwickler in Sachen Innovation und politischer sowie gesellschaftlicher Relevanz die Zukunft weisen.
„Wir haben’s eh probiert.“
Was haben Mafia 3, Battlefield 1 und Watchdogs 2 gemeinsam? Sie alle sind von großen Videospielfirmen veröffentlicht worden. Sie alle sind Fortsetzungen früherer AAA-Titel. Und sie alle halten nicht, was sie versprechen.
Da hätten wir Mafia 3, welches gerade mal vier Jahre nach der gesetzlichen Abschaffung der Rassentrennung spielt und uns in die Schuhe eines Afroamerikaners in den Südstaaten der USA steckt. Doch anstatt den allgegenwärtigen Rassismus zu thematisieren und kritisch zu beleuchten, spielt das Thema Apartheit in der Geschichte überhaupt keine Rolle und beeinflusst das Spielgeschehen nur minimal. Hier hätte sich mit etwas mehr Mut zur Brisanz spannender Erzählstoff geboten.
Battlefield 1 macht es sich zur Aufgabe den schrecklichen ersten Weltkrieg in ein spaßiges Spielprinzip umzuwandeln.
Battlefield 1 macht es sich zur Aufgabe den schrecklichen ersten Weltkrieg, mit unermesslichen Leichenbergen, monatelangen Stellungskämpfen und verherrenden Giftgasangriffen in ein spaßiges Spielprinzip umzuwandeln und legt dabei kaum Wert auf historische Akkuratheit. – Na gut, dass sind halt Shooter. Wären die wie echter Krieg, würden sie keine Spaß machen; das sehe ich ein.
Was ich nicht einsehe, ist wie sich die Entwickler mit ihrer Kampagne halbherzig bemühen, die Schrecken des Krieges aufzuzeigen – und kläglich scheitern. Die erste Mission, in der deutlich gemacht wird, wie unbedeutend und wegwerfbar ein Soldatenleben behandelt wurde, verblasst angesichts der folgenden Abschnitte, in denen man in modernisierter Ritterrüstung mit einem Flammenwerfer ganze Schwadrone im Alleingang ausschaltet. Ebenfalls äußerst bedauernswert und für mich unverständlich: Keine einzige Mission ist auf Seite von Österreich-Ungarn spielbar. Auch im Multiplayer können die Mittelmächte nicht gewählt werden. Hier hätte sich eine kritische Betrachtung des ersten Weltkriegs durch ein Kapitel auf Seite der Verlierer gerade zu angeboten.
Auch bei Watchdogs 2 bekommt man den Eindruck, Ubisoft wollte ja nirgends anecken. Anstatt ernstzunehmender Hacker, spielen wir junge Spaß-Hipster mit grottigem Modegeschmack, die mehr auf ihren #instafame als die Rettung der Welt vor den großen bösen Konzernen bedacht sind. Dabei böte das Themengebiet rund um den gläsernen Menschen, Überwachung vom Staat, Datensammlungen von Großkonzernen, etc. so viel Potenzial für eine spannende, sozialpolitisch höchst aktuelle und relevante Geschichte! Schade.
Gaming-Community? – Wer braucht die schon?
Während die großen Spielentwickler und Publisher auch heuer damit beschäftigt waren alle Ecken und Kanten ihrer Blockbuster-Titel wegzuschleifen, um möglichst viele Leute damit anzusprechen, haben sie ganz vergessen, die Leidenschaft und Mühe ihrer Kundschaft und Fans zu würdigen. Oder gingen gar gerichtlich dagegen vor.
Ein gesunder Umgang mit seinen programmierfreudigen Fans sieht anders aus.
Am härtesten traf es alle, die mit eigenen Spielen ihrer Liebe zu Nintendos Klassikern Ausdruck verleihen wollten. No Mario’s Sky, Pokémon Uranium, ein Metroid 2-Remake namens Project A2MR und hunderte andere Titel mussten alle lizenzpflichtigen Namen und Objekte aus ihren Spielen entfernen oder diese vom Internet nehmen, wenn sie sich nicht mit einer Urheberrechtsklage konfrontiert sehen wollten. Ein gesunder Umgang mit seinen programmierfreudigen Fans sieht meiner Meinung nach anders aus. Einige Entwickler lassen ihren Fans nicht nur die Freiheit, selbst eine Hommage an ihre Lieblingstitel zu basteln, sondern stellen ihnen offizielle Modding-Tools zur Verfügung.
Zwei Fankreationen, die das Copyright von Nintendos Marken verletzten, befanden sich auf der Short List für “Best Fan Creation” bei den diesjährigen Game Awards. Die beiden Titel, Pokémon Uranium und Project A2MR, wurden ein paar Tage nach Ankündigung der Nominierten klammheimlich aus der Liste gestrichen. Während der Sendung der Awardverleihung wurde auf die Kategorie “Best Fan Creation” laut nachgereichter offizieller Angabe schlicht vergessen. Erst nach Aufregung auf Seite der Brutal Doom 64– und Enderal-Entwickler wurde Enderal Tage später in einer schlichten schriftlichen Nachricht zum Gewinner erklärt. Eine solch intransparente und schlampige Vorgehensweise zeugt von der großen Missachtung gegenüber dieser aufwendigen Fankreationen, die in jahrelanger Arbeit in der Freizeit der EntwicklerInnen erstellt wurden.
Und vergessen wir bitte nicht, dass Sony im Jänner doch tatsächlich versucht hat, den Ausdruck “Let’s Play” gesetzlich schützen zu lassen. Womit gefühlt die Hälfte aller YouTube-Videos auf einen Schlag gesperrt gewesen wäre.
Gleichberechtigung my ass
Wenn wir schon beim Thema sind, wie Videospielfirmen mit der Gaming-Community umgehen, können wir auch über die größten Faux-pas 2016 zum Schlagwort “Gleichberechtigung” reden.
Den Vogel schoss wohl Microsoft ab, als sie in San Francisco eine Party für ComputerspielentwicklerInnen abhielten, während der auf Podesten Go-Go Tänzerinnen auftraten. Die Party fand am selben Tag wie der von Microsoft gesponserte “Women in Games”-Lunch statt. Anwesende beschwerten sich über Social Media, dass sie sich befremdet und unwillkommen fühlten. Daraufhin entschuldigte sich Phil Spencer, Leiter von Microsofts Xbox, offiziell.
Microsoft war nicht der einzige Publisher, der in Sachen Gleichberechtigung dieses Jahr unangenehm auffiel: Im Juli schickte Ubisoft an ihre SpielerInnen per Mail eine Umfrage aus. Wenn man bei der ersten Frage, welches Geschlecht man habe, “weiblich” antwortete, wurde man automatisch von der Umfrage ausgeschlossen. Später meinte die Firma, es habe sich dabei um einen “technischen Fehler” gehandelt.
Das Entwicklerteam von Siege of Dragonspear wurde online beleidigt und bedroht.
Doch nicht nur Publisher und Entwickler, auch Teile der Gaming-Community zeigten sich von ihrer hässlichen Seite: Die hitzige Debatte um und die Durchschlagskraft von GamerGate mögen seit 2014 abgenommen haben, was nicht heißt, dass rassistische und homophobe Äußerungen nicht weiterhin vehement von gewissen Gaming-Kreisen in den Äther posaunt werden. Als die neue Erweiterung zu Baldur’s Gate, Siege of Dragonspear, erschien, wurde das Entwicklerteam online beleidigt und bedroht. Warum? Weil dieses Add-On einen Transgender-Charakter und eine einzeilige Spitze gegen die heftigen Reaktionen der GamerGate-Gemeinschaft enthielt.
Kleines vermag Großes
Die kleineren Indie-Titel haben mir 2016 gezeigt, was mit dem Medium Videospiel möglich ist.
Wer nun den Eindruck gewonnen hat, ich wäre 2016 nur missmutig vor dem Bildschirm gesessen und hätte mich über alle Videospielneuigkeiten geärgert, den kann ich beruhigen: Dem war nicht so. Wie bereits eingangs erwähnt, waren es besonders die kleineren Indie-Titel, die es mir heuer angetan und gezeigt haben, was alles mit dem Medium Videospiel möglich ist.
Da wären einerseits die Spiele, die in ihrer Thematik unglaublich mutig waren und sich getraut haben, schwierige, gesellschaftlich tabuisierte oder politisch brisante Themen anzusprechen: That, Dragon Cancer ließ uns mit einem Vater den unaufhaltsamen Tod seines Kindes miterleben und schnürte uns vor Verzweiflung und Trauer den Hals zu. Bound verpackte eine Geschichte über Elternschaft und Familienbeziehungen in seinen zweistündigen Tanz. Und Fragments of Him ließ uns das schwierige Coming Out eines jungen Mannes erleben.
In Paper Drumpf folgten wir einem amerikanischen Rechtspopulisten im Wahlkampf und lernten den Präsidentschaftskandidaten auf einer persönlichen Ebene kennen. Orwell brachte uns eine erschreckend realistische Simulation einer Regierung, die will, dass ihre Bürger um jeden Preis “sicher” sind. Virginia erforschte, wie eine patriachale Gesellschaft Frauen dazu drängt, sich gegenseitig zu bekämpfen. Revolution 1979 wiederum war eine Telltale-artige Geschichte über Ethik und Kompromisse in ideologischer Kriegsführung.
Einzigartige Erfahrungen
Natürlich müssen Videospiele nicht immer gesellschaftskritische oder heikle Themen ansprechen. Denn ein Spiel ist ein Spiel ist ein Spiel. Games dürfen auch einfach mal lustig sein und mich unterhalten. Wenn sie mir dabei außergewöhnliche, unvergessliche Momente liefern, um so besser.
Unvergessliche Momente hatte ich eindeutig mit dem schaurigen Inside, über dessen Ende ich noch immer beizeiten grüble. Pony Island war von Anfang bis Ende eine einzige FTW-Achterbahnfahrt, die ich so schnell nicht vergessen werde und Superhot gab neben der außergewöhnlichen Präsentation auch reichlich Denkanströße zum Thema “Entscheidungsfreiheit in Spielen (und Leben)”.
Owlboy sowie Hyper Light Drifter verzauberten mich beide mit ihrem detailverliebten Pixel-Artwork und Unravel gewann mich mit seiner unaufdringlichen Niedlichkeit. Auch die heuer erschienen Walking-Simulators haben mich keineswegs enttäuscht: Das künstlerisch sowie schauspielerisch fantastische Firewatch befindet sich unter meinen Top 3 des Jahres, doch auch Oxenfree und The Witness haben mich äußerst positiv überrascht.
Stünde in einem Jahr dasselbe hier?
Wie dieser Artikel wohl in einem Jahr aussehen würde? Ich fürchte nicht viel anders.
Das war er nun, der Videospieljahresrückblick 2016. Wie dieser Artikel wohl in einem Jahr aussehen würde? Ich fürchte nicht viel anders.
Dennoch hoffe ich, dass die großen Firmen wie EA, Ubisoft und Microsoft 2017 mehr Mut haben, anzuecken. Ich wünsche mir, dass sie sich an den Indie-Devs ein Beispiel nehmen und es wagen, kontroversere Themen auch in großen Titeln konsequent aufzugreifen. Ich wünsche mir, dass die Fans – die Gaming-Community – von diesen Publishern endlich ernst genommen und deren Einsatz gebührend anerkannt wird. Ich hoffe, dass 2017 das Jahr wird, in dem Entwickler keine Morddrohungen mehr erhalten, nur weil sie ein Spiel mit einem Transgender-Charakter veröffentlichen und das Jahr, in dem man sich auf Microsofts Partys nicht länger unwohl fühlen muss.
Doch selbst, wenn sich keine dieser Hoffnungen bewahrheiten sollte, weiß ich: Das nächste That, Dragon Cancer, das nächste Paper Drumpf und das nächste Firewatch kommen bestimmt – wenn auch nicht von einem großen Publisher.