Shadow of the Colossus im Test – Meisterwerk in neuer Blüte
Seit Äonen wandelt der Koloss ungestört durch diese Lande. Die Erde erbebt unter jedem Schritt seiner gigantischen Hufe. Ehrfurchtsvoll wandert mein Blick nach oben, um den berghohen Titan in seiner gesamten Gewalt zu erfassen. Ich fühle mich klein und nichtig. Nicht mehr als eine lästige Fliege im Vergleich zu diesem majestätischen Riesen. Mein Vorhaben kommt mir mit einem Mal wahnwitzig und blasphemisch vor. Doch um Mono zu retten, muss ich es wagen.
Seit Äonen wandelt der Koloss ungestört durch diese Lande. Doch heute wird er fallen.
Immersion
Die märchenhafte Geschichte von Shadow of the Colossus ist schnell erzählt: Der junge Krieger Wander reitet mit der Leiche der jungen Frau Mono in das Verbotene Land. Dort geht er einen Pakt mit der mysteriösen Stimme Dormin ein, um das Mädchen in das Reich der Lebenden zurückzuholen. Dafür muss Wander der Reihe nach sechzehn Kolosse bezwingen, wobei ihm niemand außer seinem treuen Pferd Argo zur Seite steht.
Reduktion
Wie die Geschichte ist auch das Spielprinzip auf das Wesentliche reduziert; nichts lenkt von Wanders verzweifelter Quest ab – keine Gegner, Charaktere oder Nebenaufgaben. Auf der Suche nach dem nächsten Koloss reitet man auf Argo durch das menschenleere Land, vorbei an beeindruckenden Naturkulissen und verfallenen Ruinen. Das magische Schwert Wanders weist ihm den Weg zum nächsten Riesen, wenn er es ins Sonnenlicht hält. In der jeweiligen Kampfarena angekommen, wird der Koloss auf imposante Weise vorgestellt und der Kampf beginnt.
Dabei entpuppen sich die riesigen Wesen als Bossgegner und Rätsel zugleich. Jeder Koloss hat leuchtende Siegel auf seinem Körper, die zerstört werden müssen, um ihn zu Fall zu bringen. Doch um den Koloss überhaupt erklimmen zu können und so die Siegel zu erreichen, muss man dessen Verhalten sorgfältig beobachten. Es gilt, Angriffsmuster zu erkennen, Schwachstellen auszunutzen und die Umgebung klug in den Kampf miteinzubeziehen, um das Ziel zu erreichen.
Das komplexe Verhalten und aufwendige Design der Kolosse lässt sie lebendig und intelligent wirken. Wenn sie friedlich durch ihr Reich stapfen und einen misstrauisch mit ihren blauen Augen verfolgen oder sich unter Schmerzen schütteln, wenn man beginnt, auf sie einzustechen, zweifelt man an der Richtigkeit seines Vorhabens. Es mag eine große Errungenschaft sein, eines der riesigen Geschöpfe zu erlegen, doch Genugtuung verspürte ich dabei nicht. Eher Trauer und Wehmut, dass etwas so Mächtiges und Altes durch meine Willkür vergehen muss.
Perfektion
Durch die spielmechanische Reduktion auf das Wesentliche wirkt Shadow of the Colossus äußerst fokussiert und elegant. Alle vorhandenen Elemente wurden zur Perfektion getrieben. Nicht nur das oben angesprochene Verhalten der Kolosse, auch Kleinigkeiten wie Stolperbewegungen des Spielcharakters oder verzögerte Reaktionen des Pferdes lassen die Spielwelt unheimlich lebendig wirken. Die zeitgemäße Technik trägt ihr Übriges zum Wow-Faktor bei: Vor unseren Augen tun sich atemberaubende Landschaftspanoramen mit märchenhaften Lichtstimmungen auf und laden zum Schwärmen ein.
Erzählung, audiovisuelles Design, Spielmechaniken sowie Verhalten der Geschöpfe und Charaktere spielen in Shadow of the Colossus perfekt zusammen und bilden ein immersives Meisterwerk, das viel mehr ist als die Summe seiner sorgfältig polierten Einzelteile.
Restauration
Dass das Gesamtbild so gut funktioniert, liegt vor allem daran, dass die EntwicklerInnen bei Bluepoint bis auf das neue technische Gerüst nur sehr behutsam Änderungen am Original vorgenommen haben. Neu geboten werden vor allem zusätzliche Grafikoptionen und ein recht detaillierter Fotomodus. Nach dem ersten Spieldurchgang warten in einem “New Game +” außerdem Zeitchallenges, in denen man die Kolosse möglichst schnell bezwingen soll. Auch ein paar Collectables gibt es in Form von kleinen goldenen Münzen. Doch diese drängen sich nie auf. Im Gegenteil muss man eher genau danach suchen und bewusst vom Weg abweichen, um sie zu finden.
In mancher Hinsicht könnte man den EntwicklerInnen vorwerfen, mit den Neuerungen fast zu sanft vorgegangen zu sein. Zwar gibt es ein alternatives Button-Layout, das einem das Leben leichter macht, aber genau wie im Original hakt die Steuerung gerne in brenzligen Situationen, sodass Wander unfreiwillig komische Klettermaneuver aufführt. Auch Argo benimmt sich manchmal eher wie ein störrischer Esel denn ein reinrassiges Pferd. Und die Kamera lässt einen gerne mal in Felswände oder Fellgewusel blicken, wenn man Überblick dringend nötig hätte.
Ich würde lügen, würde ich sagen, ich hätte das Spiel nicht zwischendurch mal für zehn Minuten zur Seite gelegt, wenn Wander wieder mal abgestürzt war, weil er sich partout nicht an einem Vorsprung festhalten wollte. Doch das sind in Anbetracht des Gesamtbilds nur kleine Schönheitsfehler. Es dauerte nie lange und es zog mich zurück in die große einsame Weite des Verbotenen Landes, bis meine gnadenlose Aufgabe erledigt war.
Fazit zu Shadow of the Colossus
Shadow of the Colossus ist auch nach über einem Jahrzehnt seines Ersterscheinens ein absolutes Meisterwerk, das nichts von seiner Strahlkraft eingebüßt hat. Wenn überhaupt hat es durch sein modernes technisches Gewand nur an Immersion und Faszination gewonnen. Wer diesen Meilenstein der Videospielgeschichte bis jetzt versäumt hat, schlägt zu. Und wer es schon mal gespielt hat, auch.