Tell Me Why (Test): Kindheitstrauma im Doppelpack!

von Johannes Hausmair 27.08.2020

Verdrängte Erinnerungen, Familien Probleme, Lügenkonstrukte und Selbstfindung. Diese Themen greift Dontnods neues Episoden-Story Game Tell Me Why auf. Was das Spiel zu bieten hat, erfahrt ihr in meinem Tell Me Why Test.

Release-Infos & Preis

Tell Me Why ist mit 29,99€ für Xbox, PC verfügbar und Xbox Game Pass enthalten. Kapitel 1 ist ab heute Donnerstag, den 27. August, Kapitel 2 ab Donnerstag, den 3. September, Kapitel 3 ab Donnerstag, den 10. September spielbar. Mehr Informationen findet ihr auf der offiziellen Website.

Wer, Wie, Was?

Es zieht uns ins kühle Delos Crossing Alaska, wo wir das Elternhaus, der beiden Ronan Zwillinge, Tyler und Alyson, für den Verkauf fertigmachen. Was ist in diesem Haus geschehen? Warum ist ihre Mutter nicht mehr hier? Wo ist der Vater? Diese und viele weitere düstere und vernebelte Erinnerungen ihrer Kindheit werden hervorgekramt und verarbeitet. Durch die Auffrischung der vergangenen Ereignisse entwickeln die Geschwister ein besonders Band zu einander, eine übernatürliche Verbindung. Und mehr will ich gar nicht verraten. Eine Teaser noch: Tyler war mal ein Mädchen namens Ollie, tritt im Spiel als Transgender-Mann in Erscheinung. Der Grundstein für unbehagliche Gespräche, heftige Konfrontationen und beschwerliche Entscheidungen ist auf jeden Fall gelegt!

Familiengeschichte und tiefe Verbundenheit

Widmen wir uns gleich dem Screenwriting: Story, Gespräche und Plot-Twists sind gut geschrieben aber auch vorhersehbar. Zumindest wenn man sich gut umsieht, sind viele Geschehnisse abzusehen. Dokumente oder Erinnerungen geben hier und da einen Wink mit dem Zaunpfahl, sodass mich nicht viel überraschte. Story-relevante Entscheidungen sind nicht so aufreibend wie bei Life Is Strange und haben nur geringe Auswirkungen. Gut ist, dass ein paar Klischees bezüglich Tyler und seinem Transgender aufgegriffen, aber nicht zum Fokus des Spiels gemacht werden. Alyson bekommt ebenso, wenn nicht ein wenig mehr Aufmerksamkeit und Hintergrundgeschichte.

Die Charaktere sind glaubwürdig aber längst nicht so tiefgründig wie bei Life Is Strange geschrieben. Sie können nicht großartig enttäuscht oder verletzt werden. Ich konnte nur mit der Mutter Mary-Ann und den Zwillingen mitfühlen. Das leider auch nicht so wie bei anderen Videospielcharakteren. Was die Zwillinge sehr real wirken lässt, sind die netten, kleinen Geschwister-Streitigkeiten. Erinnerungen werden gleich erneut diskutiert und zum Thema gemacht. Beispielsweise über ein Spielzeug was Alyson … oder doch Tyler gehörte? Diese Szenen haben mich selbst an meine Kindheit erinnert!

Neben dem Gameplay-Loop: neue Umgebung erkunden, alle Gegenstände analysieren und mit jedem Individuum interagieren, sind die Rätseleinlagen eine nette Abwechslung. Sie sind simpel und erfordern nur das Lesen entzückender Fantasiegeschichten eines Kinderbuchs, punkten aber mit einem lieblichen Charme. Die Erzählungen im Buch sind mit der Ronan-Familie und deren FreundInnen verbunden. Wenn man herausgefunden hat welche Figur im Buch einem Charakter im Spiel entspricht, sind die Geschichten ziemlich aufschlussreich über die Vergangenheit. Die Besonderheit an diesem Titel ist die starke Verbindung der Zwillinge, wodurch sie ihre vernebelten Erinnerungen hervorholen und visualisieren können. Nicht immer sind die Geschwister einer Meinung und öfters haben sie verschiedene Ansichten was die Geschehnisse angeht. Es liegt an euch zu entscheiden mit welcher Erinnerung die Geschichte fortfahren soll. Das gilt auch für Dialoge und Aktionen: sagt ihr einer ersten und vielleicht einzigen Besichtigungstermin zum Hausverkauf zu, oder lehnt ihr vorerst ab um noch Zeit im Haus zu verbringen? Wie in den Vorgängern schreibt ihr, zu gewissen Teilen, eure eigene Geschichte.

Weiterenticklung

Die Life is Strange „Plastilin-Grafik“ wurde verbessert und die Detailverliebtheit wirkt höher als bei den Vorgängern. Manche Fotos oder Dokumente sind leider unscharf und Umgebungen bzw. Kulissen etwas leblos. Animationen bleiben den Vorgängerspielen treu. Bäume könnten bei hörbar starkem Wind ruhig etwas mehr wanken, oder Charaktere könnten Emotionen etwas energischer darstellen. Doch die Musik bietet, wie bei Life is Strange, die perfekte Untermalung der jeweiligen Situationen. Hervorzuheben ist zudem die wunderbare Soundkulisse: Einige Beispiele für die detaillierten Hintergrund-Sounds sind das Fiepsen eines alten Röhrengeräts, das Vorbeifahren eines Motorrades in der Ferne, das Tropfen der Rohre im Keller, ein vorbeiziehendes Flugzeug oder das Geräusch der knarzenden Holzböden. So entsteht eine höhere Immersion im Spiel.

Das Erkunden der Gegend und Untersuchen verschiedenster Objekte macht Freude. So lernen wir die Protagonisten besser kennen und können eine stärkere Verbindung zu ihnen bekommen. Leider kommen bei wiederholtem analysieren immer die gleichen Gedanken bzw. Gespräche heraus. Sollten sich die Geschwister in einem Dialog befinden sollte man lieber die Finger von Detektivarbeiten lassen, denn dann wird das Gespräch abgebrochen und man erfährt nicht warum Bananen auf einem Boot verboten sind (Schade, dass sich diese Konversation nicht wiederholen ließ). Außerdem sollte gut überlegt sein, in welcher Reihenfolge Objekte analysiert werden, denn des Öfteren wollte ich auf eine darauf folgende Konversation eingehen und dann ging die Story weiter. Die Gedanken der nicht analysierten Gegenstände habe ich dann nicht zu hören bekommen. Hier könnte man mit verschieden Icons für Interaktionen Abhilfe schaffen, andererseits ist dadurch der Wiederspielwert erhöht. Dieser ist aber grundsätzlich gegeben, weil Entscheidungen anders getroffen werden können und dadurch das Ende unterschiedlich ausgeht.

Es gibt, wie bei jedem Dontnod-Spiel, keine deutsche Sprachausgabe. Briefe, Bücher und Dokumente sind dafür liebevoll übersetzt. Für jene die der englischen Sprache noch nicht mächtig sind oder keine Untertitel lesen wollen ist das definitiv ein Hindernis. Doch warum macht man das? Das Entwicklerstudio kann sich so auf einen Cast konzentrieren und eine perfekte und glaubwürdige Synchronisation erschaffen. Die Dontnod-Spiele haben ihren eigenen Charme, welcher möglicherweise durch verschiedene Synchronisationen verloren gehen kann.

Das größte Problem, von beispielsweise Life Is Strange 2, war, dass die Veröffentlichung der einzelnen Episoden verteilt war. Das wurde nun gelöst. Immerhin waren die Abstände der Life Is Strange 2 Episoden 3-4 Monate. Da ist klar das Details vergessen wurden und Wissenslücken entstanden. Nicht der Fall bei Tell Me Why, denn alle drei Episoden erscheinen innerhalb von drei Wochen. So kann man die Story genießen ohne Einzelheiten der vorherigen Kapitel zu vergessen. Es entsteht ein viel abgeschlosseneres Erlebnis, wenn man die Credits der letzten Episode erblickt.

Tell me Why Test-Fazit

Tell Me Why erzählt eine erwachsene Geschichte rund um aktuelle Themen und netten Charakteren. Ich finde allerdings, dass drei Episoden mit je 3:30 Spielzeit etwas zu kurz sind, um eine gute Verbindung zu Tyler und Alyson zu entwickeln und eine mitreißende Geschichte zu erzählen. Cliffhänger oder beeindruckende Plot-Twists sind zudem leider nicht vorhanden. Bei Max und Chloe in Life is Strange habe ich wesentlich stärker mitgefiebert und mir sind auch dortige Nebencharaktere mehr ans Herz gewachsen.

Mir sind leider keine Referenzen zu Life Is Strange aufgefallen und kann nicht sagen ob Tell Me Why im gleichen Universum spielt. Die Formel und Struktur sind ident, übernatürliche Fähigkeiten sind ebenfalls präsent und ich kann mir gut vorstellen das irgendwo ein paar Easter-Eggs versteckt sind (vielleicht entdeckt ihr ja welche). Ich sehe es als inoffizielles Spin-Off der Reihe an: Eine abgespeckte Variante, hinsichtlich der Vielfalt der Orte, Charaktere, Entscheidungen und Auswirkungen. Ich hatte Freude das eisige Alaska zu besuchen und den traumatischen Erinnerungen der Ronan-Zwillinge auf den Grund zu gehen. Allerdings wäre bestimmt noch mehr in Bezug auf Emotionalität und Tiefe drinnen gewesen, wenn man bei der fünf Episoden-Struktur geblieben wäre.

Seid ihr Fans von Life Is Strange oder sucht ihr eine solide Geschichte für ein paar Stunden Unterhaltung wird euch das Spiel bestimmt gefallen. Dennoch würde ich eher zu mitreißenderen Spielen wie eben Life Is Strange, What Remains Of Edith Finch und Firewatch verweisen. Tell Me Why kann ich nur empfehlen, wenn ihr genannte Titel schon kennt und etwas Neues in diesem Segment sucht.

Wertung: 6.5 Pixel

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