Torment: Tides of Numenara (PC) im Test

von David Kolb-Zgaga 28.02.2017

Was ist ein einzelnes Menschenleben wert? Das ist die entscheidende Frage, um die sich in Torment: Tides of Numenara alles dreht. Der geistige Nachfolger des großartigen Planescape: Torment will mit einer tiefgründigen Geschichte und einem herausfordernden Rollenspiel in die großen Fußstapfen seines Vorgängers treten. Ob dieses Unterfangen gelungen ist, erfahrt ihr in meinem Test.

Der Letzte Verstoßene

Schon der Beginn von Torment: Tides of Numenara schafft einen sehr effektiven Storyrahmen für das Motiv eines einzelnen Menschenlebens: Der sogenannte „wechselhafte Gott“ ist Hauptteil der Geschichte. Dabei handelt es sich um ein uraltes Geschöpf, genau genommen das letzte Wesen seiner Art, das immer wieder neu geboren wird. Dabei pflanzt sich das Bewusstsein jedoch in einen neuen Körper ein, der dann übernommen wird. Sobald der wechselhafte Gott, den missbrauchten Körper wieder verlässt, erwachen diese Menschen und leben mit eigenem Bewusstsein und ohne Erinnerung an die Vergangenheit weiter. Und genau so einen Menschen spiele ich in Torment: Tides of Numenara, genannt der Letzte Verstoßene. Zwar ist der Held mit Gedächtnisverlust schon lange keine Videospielneuheit mehr, aber inXile nutzt dieses Konzept perfekt aus.

Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen

Bereits in der ersten Szene fällt meine Hauptfigur vom Himmel und das mit rasender Geschwindigkeit. Durch einen grellen Blitz erwache ich aber plötzlich in meinem eigenen Unterbewusstsein, welches mir fremde Erinnerungen zeigt, die eigentlich dem wechselhaften Gott gehören. Das Spiel wirft mich dadurch in mehrere kurze Szenarien und fragt mich am Ende, wie ich mich dabei verhalten möchte. Da gibt es z.B. ein Kampfszenario, in dem ich entscheiden muss, ob ich zuerst den riesigen, bedrohlichen Gegner oder doch die zarte, aber umso gefährlichere Magierin attackieren möchte. Zudem ist auch mein Vorgehen wichtig: möchte ich ausweichen, oder einen risikoreichen, aber sehr wirksamen Frontalangriff wagen? Je nachdem, wie man bei diesen Miniepisoden agiert, wird der Charakter des letzten Verstoßenen geformt. Danach suche ich mir noch einige zusätzliche Boni aus. In meinem Fall habe ich noch die Eigenschaft „bezaubernd“ gewählt, wodurch mein Charakter besser im Überreden und Täuschen ist und ich so neue Gesprächsoptionen erhalte. Außerdem habe ich dem letzten Verstoßenen die Fähigkeit verliehen (oberflächliche) Gedanken zu lesen. Als Letztes wählt man dann noch zwischen den Klassen Glaive (Krieger), Jack (Allrounder) und Nano (eine Art Magier). Allein die Charaktererstellung war für mich schon ein packendes Erlebnis, das sich angenehm von der klassischen Rollenspielattribut-Punkteverteilung abhebt. Wer sich jetzt Sorgen macht, dass man dadurch einen verskillten Charakter erhält – keine Angst, es ist im Nachhinein noch möglich, alle Werte zu bearbeiten. Torment: Tides of Numenara liefert lediglich einen Charaktervorschlag, der meiner Meinung nach aber sehr treffend ist.

Übergreifende Dimensionen

Jetzt aber Schluss mit Charakterwerten und Klassendetails, kommen wir zum coolsten und spannendsten Feature von Torment: Tides of Numenara, die Spielwelt und deren Geschichten. Torment spielt zwar auf der Erde, jedoch Millionen Jahre in der Zukunft. Acht Zivilisationen sind in dieser Zeit entstanden und beinahe vollständig wieder zerstört worden. Deshalb spricht man bei Torment auch von der neunten Welt. Es ist unklar, warum diese großen Zivilisationen zusammengebrochen sind, jedoch gibt es einige Überbleibsel, die sogenannten Numenara, die von den Bewohnerinnen und Bewohner genutzt werden. Meistens hat die Bevölkerung zwar keinen Plan, welchem Zweck die Numenara ursprünglich dienten, meistens taugen diese aber zumindest noch als Energiequelle oder als unterhaltende Kuriosität. Dieses Setting bietet enorm viel Platz für kreative und fantasievolle Gebäude und Gegenstände. Ein Beispiel ist eine hochhaushohe Uhr, die sich in mehreren Dimensionen gleichzeitig befindet. Schafft man es diesen Gegenstand in einer Dimension festzuhalten, findet man drei Charaktere, die dort schon seit Ewigkeiten eingeschlossen wurden. Durch die Transformierung sind sie aber nun im Gedächtnis des letzten Verstoßenen. Das Unterbewusstsein des Verstoßenen ist ein verwinkelter und komplexer Ort, der ganz selbstverständlich betretbar ist. Durch bestimmte Erinnerungen ist dieser Ort erweiterbar und bietet dadurch sogar interessante Haupt- und Nebenquests an. Außerdem gelangt ihr bei jedem Tod des letzten Verstoßenen in das Unterbewusstsein und müsst dann wieder zurückkehren – wie auch schon im geistigen Vorgänger gibt es keinen Game-Over-Screen.

Absurde Begegnungen

Aber nun wieder zurück zu den merkwürdigen Begegnungen: Ohne hier all zu viel zu SMan könnte die Liste noch ewig fortführen, denn es warten so viele fantastische und kuriose Ereignisse, die es in Torment: Tides of Numenara zu erleben gibt.

Um einen besseren Eindruck der Queststrukturen zu bekommen, solltet ihr unbedingt das nachfolgende, interaktive Quest-Video „durchspielen“.

Aktion – Reaktion

Jede Aufgabe, die im fortlaufenden Spiel in das Questlog eingetragen wird, kann auf verschiedene Herangehensweisen gelöst werden und noch dazu unterschiedliche Storyausgänge haben. Jede eurer Handlungen hat Konsequenzen, ob unmittelbar oder erst viel später im Verlauf des Spiels. Mein letzter Verstoßener ist eine ziemliche Pfeife, was das Kämpfen anbelangt, weshalb er die meisten Probleme im Gespräch oder mit flinken Fingern erledigen muss. Andernfalls ist er meist hoffnungslos unterlegen und stirbt. Für jeden Angriff aber auch jeden Einsatz einer Fertigkeit (Manipulieren, Flinke Finger etc.) werden Punkte aus den jeweils passenden Charakterpools entfernt. Für soziale Interaktionen und Zauber wird Intellekt benötigt, für gewandte Angriffe und reaktionsschnelles Handeln Geschwindigkeit und für Angriffe und den Einsatz von körperlicher Kraft wird Stärke benötigt. Diese Pools füllen sich erst wieder auf, wenn die Gruppe irgendwo rastet bzw. schläft. Ein ständiges Haushalten ist dabei also erforderlich, denn innerhalb und außerhalb dieser Kämpfe werden die Pools fast jederzeit belastet. Dabei kann auch ausgesucht werden, ob man mehr als einen Punkt einsetzen möchte, um die Erfolgschance zu erhöhen. Selbstverständlich lassen sich die einzelnen Pools, die Fertigkeiten, die Fähigkeiten und auch wie viele Punkte man einsetzen darf, pro Levelaufstieg verbessern. Damit bekommt man ein großes Repertoire an Möglichkeiten, wie man vorgehen möchte. Wie das aber in Rollenspielen so ist, kann man das nicht alles auf einmal skillen und allein schon aus diesem Grund braucht man ein paar fähige Gefährten.

Die Gefährten

Auch die potenziellen Mitstreiter passen sehr gut in die abgedrehte Sci-Fi-Welt und so laufe ich z.B. Callistege über den Weg. Sie ist eine rothaarige Nano und um sie herum flirren ständig unzählige ihrer vielen „Schwestern“, die alle Versionen ihres eigenen Ichs darstellen. Sie und auch andere Partymitglieder können euch jederzeit Aufgaben abnehmen und euch bei Gefechten beistehen. So ist es immer möglich, die Stärken der Party ausspielen zu können. Außerdem ist es sehr wichtig mit euren BegleiterInnen zu reden, denn diese reagieren auf eure Taten und auch auf die anderen MitstreiterInnen, wodurch sie manchmal sogar die Gruppe verlassen. jeder Charakter hat ganz eigene Motive, warum er oder sie dem letzten Verstoßenen folgt. Auch hier möchte ich wiederum nicht all zu viel spoilern, aber ich freue mich darüber, dass viele der Charaktere kein klassisches Schwarz-Weiß-Denken besitzen, selbst wenn es anfangs noch so scheint. Neben der ständigen Unterstützung bieten die BegleiterInnen auch eigene Nebenstories an, wo man mehr über ihre Hintergründe erfährt. Außerdem ist es erwähnenswert, dass die Kämpfe in Torment: Tides of Numenara „Krise“ genannt werde, was schon nahelegt, dass dies eine außergewöhnliche Situation ist. Das Rollenspiel ist wenig kampfzentriert und bietet viele Möglichkeiten an, ein potenziell gefährliches Ereignis gewaltfrei zu lösen. Es ist sogar möglich, während des Kampfes Feinde anzusprechen und diese davon zu überzeugen, die Streitigkeiten anders beizulegen. Ein sehr gelungenes Feature und gerade für meine schwachbrüstige Party enorm wichtig.

Die Gezeiten

Außerdem reagieren nicht nur die eigenen Partymitglieder auf euch, jede Handlung hat Auswirkungen darauf, wie euch die Welt wahrnimmt. Nicht nur, dass Questverläufe sich ändern, durch die Gezeiten, das Moralsystem von Torment: Tides of Numenara, reagieren die Personen von Torment unterschiedlich auf den letzten Verstoßenen. Die Gezeiten sind außerdem ein weit komplexeres Moralsystem, als das klassische Gesinnungssystem eines Dungeons & Dragons. Durch die verschiedenen Dialogoptionen erhöhen sich die Gezeiten wie z.B. Indigo, das für Gerechtigkeit und das Wohl der Allgemeinheit steht, Gold, welches bei Empathie bzw. Opferbereitschaft gestärkt wird oder auch Silber, das für das Streben nach Macht steht. Oftmals kommt es vor, dass bei einer Antwort sogar mehrere Gezeiten verstärkt werden. Je nach Punktepool können dann auch bis zu zwei Farben gleichzeitig beim letzten Verstoßenen aktiv sein.

Lies weiter!

Die fantasievollen kleinen und großen Geschichten, die interessanten BegleiterInnen und die spürbaren Konsequenzen – das klingt alles großartig und das ist es auch – für mich! Wie sich das für ein Oldschool-RPG gehört, erschlägt einen Torment: Tides of Numenara aber nahezu mit Textboxen. viel findet auch in der eigenen Fantasie statt und gelegentlich stößt man auch auf belanglose Charaktere und deren Geschichten. Dazu kommt, dass es die absolute Ausnahme ist, dass Dialoge vertont ablaufen. Die meiste Zeit heißt es Lesen, Lesen, Lesen. Dafür sind aber vor allem im Englischen die Texte sehr gut geschrieben. Auf Deutsch ist das oftmals auch der Fall, aber hier stolpert man hin und wieder, über den einen oder anderen Rechtschreib- und Grammatikfehler. Das ist unschön, kommt aber nicht häufig vor und bleibt bei dieser Textmenge im Rahmen. Loben kann ich hingegen das Artdesign und die schön inszenierte und stimmige Welt. Zwar gibt es keine Zwischensequenzen und nur wenig Animationen, aber die Dinge, die es zu sehen gibt, sind auch dank des besonderen Settings interessant anzusehen und detailreich gestaltet. Durch die vielen technischen Geräte und die unbekannten Maschinen blitzt und funkt es und an jeder Ecke gibt es kleine Details zu entdecken.

Fazit

Torment: Tides of Numenara ist ohne jeden Zweifel ein großartiges Rollenspiel, das es versteht mit gut erzählten Metaphern immer wieder zu fragen, ob es sich lohnt, das Leben eines Einzelnen für ein höheres Wohl zu opfern oder zu entstellen. Zudem bietet das abgedrehte Sci-Fi-Setting mit seinen alten und geheimnisvollen Technologien Stoff für fantastische Geschichten. Die Schreiberinnen und Schreiber von InXile haben hier ganze Arbeit geleistet, denn diese Dialoge, Charaktere und Geschichten findet ihr so in keinem anderen Videospiel. Für ein Oldschool-RPG ist das Kampf- und Charaktersystem angenehm unkompliziert und bietet trotzdem eine taktische Vielfalt. Allerdings werdet ihr nicht drum rumkommen, euch in die Massen an Text rein zu graben und sehr viele interessante, aber auch langwierige Dialoge zu führen. Wem das nicht zu viel ist und zusätzlich noch über ein wenig Kopfkino verfügt, der sollte Torment: Tides of Numenara unbedingt spielen. Für mich ist es das bisher beste neuzeitliche Oldschool-RPG und ein mehr als würdiger Nachfolger für Planescape: Torment.

Wertung: 9 Pixel

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